Nachdem am ersten Termin der neuen Zählsaison Mitte September der Schwerpunkt auf der Graugans lag, standen nun v. a. die nordischen Arten im Fokus.
Graugänse sind im September auf der Insel Usedom nur in geringen Mengen anzutreffen, so dass einige Zähler in ihrem Gebiet leer ausgingen. Nur im inselnahen Peenetal gibt es zu dieser Zeit größere Rastansammlungen wie z. B. im Polder Klotzow oder südlich in den Bargischower Wiesen und im Polder Kamp.
Die nordischen Arten Blässgans, Wald- und Tundrasaatgans sowie Weißwangengans fliegen normalerweise Anfang Oktober bei uns ein. In diesem Jahr waren sie auf Grund milder Witterung in den nördlichen Rast- und Sammelgebieten deutlich später dran, so dass es erst Anfang der zweiten Oktoberdekade zu beeindruckendem Zuggeschehen kam. In Breitfrontzug quer über die Ostsee, aber auch küstenparallel aus dem Baltikum erreichten uns große Schwärme. Vier Tage ging es Tag und Nacht lautstark am Himmel zu, allerdings meist über die Insel hinweg. Aus dieser ersten Einflugwelle entwickelt sich nur geringes Rastgeschehen auf der Insel.
Das sieht südlich von uns, im Peenetal, schon völlig anders aus. Riesige Scharen, v. a. von Blässgänsen, lassen sich dann auf den abgeernteten Mais- und Zuckerrübenfeldern beobachten, während Grünland zu dieser Zeit nicht genutzt wird. Das ist nahrungsökologisch bedingt, denn die energiereichen Erntereste geben natürlich ganz andere Power für die bevorstehende Überwinterung oder den Weiterflug in die westeuropäischen Winterquartiere, z. B. in Holland.
Nach dieser ersten Welle sind die nordeuropäischen Sammelplätze erst einmal leer geflogen. Aber schnell rücken aus arktischen Regionen weitere Schwärme nach, so dass auch bei uns sukzessive weitere Gänse eintreffen, die dann auch die traditionellen Rastplätze auf der Insel besetzen.
Deshalb sichern wir an den Zählterminen folgende wichtige Gebiete ab: Thurbruch, südliches Achterwasser, Usedomer Winkel, Gnitz, Wolgaster Ort und das Festland am Peenestrom sowie die nördlichen Peenepolder. Und nun gibt es keine Negativerlebnisse, so dass Christiane Beck, Cornelius Friedrich, Harald Jürgens, Marisa Kaster, Kathrin Räsch, Bernd Schirmeister und Olaf Wenzel dieser Aufgabe schon gespannt entgegen sehen.
Der Zähltermin lag am 11.11.2023 und 12.11.2023, wobei einzelne Teilgebiete auch bereits einige Tage davor oder danach aufgesucht wurden, was ja auch immer dem persönlichen Zeitfonds der Beobachter geschuldet ist. Aber nicht ganz synchron gezählt, ist besser als gar nicht gezählt.
Das Wetter meinte es gut, moderate Temperaturen, tolle Sicht, sogar ein bisschen Sonne und wenig Wind- das alles kriegt man im November, aber selten zusammen.
Meine Zählstrecke umfasste im Wesentlichen das südliche Achterwasser. Den ersten großen Trupp gab es gleich bei Kölpinsee. Interessanterweise konnte eine beringte Blässgans abgelesen werden (schwarz R6B), die dort auch im vorigen Jahr im November gerastet hatte, dann allerdings nach Holland weitergezogen ist, wo sie ebenfalls abgelesen wurde. So lässt sich auch bei Gänsen Rastplatztreue belegen. Neben weiteren relativ kleineren Gruppen bei Pudagla, Dewichow und Liepe gab es dann eine richtig große Ansammlung bei Reestow im Norden des Lieper Winkeln mit insgesamt über 3000 Gänsen, darunter über 1700 Weißwangengänsen, über 400 Graugänsen und fast 600 Blässgänsen. Erfreulich waren auch über 600 Waldsaatgänse (von diesen ganzen Gänsen war während einer Kontrolle in der letzten Woche dort noch nichts zu sehen, so dass es erheblichen Zuzug gegeben haben musste), eine Art, deren Bestände im Gegensatz zu anderen Gänsearten stark abnehmen, was v. a. an der intensiven Bejagung in Russland liegt. Selbst im Frühjahr vor der Brutzeit werden die Gänse dort (illegal) geschossen, so dass mit dem Verlust des Partners auch die Reproduktion ausfällt.
Einen plötzlich weiter entfernt neben der Straße haltenden Jeep hatte ich erst gar nicht beachtet. Als der erste Schuss aus der Schreckschusswaffe fiel, war aber alles klar - Vergrämung. Was für ein Unsinn! Die Gänse hatten verteilt auf einem abgeernteten Zuckerrübenacker und einem Maisstoppelfeld gesessen und dort nur die Erntereste gefressen, also Biomüll, der bei der späteren Feldbearbeitung sowieso untergepflügt wird. Nun mussten sie auffliegen, was zusätzlich Energie kostet, die dann für den Weiterflug fehlt. Dieser unsinnige Vorgang wiederholte sich eine Viertelstunde später erneut. Egal, ob Landwirt oder Jäger, dieser Mensch hatte auf jeden Fall seinen fehlenden ökologischen Sachverstand unter Beweis gestellt. Äsen die Gänse auf Rapsfeldern oder frisch eingedrilltem Getreide, sind Schäden schnell sichtbar und müssen durch die Landwirte auch nicht akzeptiert werden. Die Gänse lernen schnell, dass sie auf diesen Flächen nicht geduldet werden und suchen sich Ausweich in der Nähe. Aber wo sollen sie ihre Kraftreserven auffüllen, wenn sie nirgends geduldet werden?
Nach einigen Flugrunden beruhigte sich jedoch alles wieder, die Gänse sicherten einige Zeit, um dann doch wieder der Nahrungsaufnahme nachzugehen. Nachteil solcher Praxis ist für den interessierten Naturfreund die parallel zu Beunruhigungen immer größer werdende Fluchtdistanz der Vögel, die eine friedliche Annäherung kaum noch gestattet, da die Gänse die Absichten nicht unterscheiden können.
Trotzdem gelang es nach längerer Beobachtungszeit zwei weitere halsbandberingte Gänse abzulesen. Eine Waldsaatgans (gelb HXG), die 2021 an der unteren Oder beringt wurde und bisher nur in Mittelpolen gesehen wurde. Und eine alte Bekannte, eine finnische Graugans (blau 2ZS). Sie wurde am äußersten Nordostrand der Ostsee, an der Bottenwieck, beringt und war schon in den vergangenen Jahren im Raum Neppermin, Dewichow, Liepe Wintergast. Was für ein exaktes Orientierungsvermögen nach 2000 Kilometern Flug.
Besonders viele Gänse rasten momentan auch im Usedomer Winkel. Allein 2000 Weißwangengänse, dazu fast doppelt so viele Blässgänse und hunderte Grau- und Saatgänse bildeten eine beeindruckende Kulisse.
Es lohnt sich immer, große Trupps von Weißwangengänsen aufmerksam durchzumustern. Und tatsächlich konnte in den Massen eine seltene Rothalsgans entdeckt werden. Es war sogar ein Altvogel, kenntlich an den beiden breiten weißen Flügelbinden, während Jungvögel drei Flügelbinden aufweisen. Die Art brütet weit östlich in der russischen Tundra, zieht südlich und überwintert in Bulgarien und Rumänien am Schwarzen Meer. Jährlich erscheinen jedoch einzelne Rothalsgänse zusammen mit den großen Trupps der Weißwangen- oder Blässgänse auf westlicher Route weit abseits ihrer regulären Winterquartiere, ein wunderschöner und sehr besonderer Anblick.
Zum Schluss ging es noch ins Thurbruch, dessen weite Grünlandflächen nun auch ca. 1500 Gänse beherbergen. In den letzten Tagen immer am Ortsrand von Ulrichshorst. Und tatsächlich, unmittelbar an den Gartenzäunen ästen sie unbekümmert von der nahen Siedlung. Und hier begegnete man ihnen freundlich, mehrere Anwohner äußerten ihre Begeisterung über die Gäste aus dem hohen Norden. Aber auch hier plötzlich Flugalarm, ohne erkennbaren Grund. Aber nach ein paar lautstarken Flugrunden ging alles an fast der gleichen Stelle wieder runter und äste weiter. Unruhe, verbunden mit begründeter Vorsicht, die manchmal Leben retten kann.
Die Gänse sind die Pflicht, aber es gibt ja auch noch die Kür. Was sonst noch während der Zählung geschah:
Natürlich Seeadler, die sind immer da. Während solcher Zählungen nicht unbedingt gern gesehen, haben sie doch eine große Scheuchwirkung auf die Gänse, denn diese gehören zum Beutespektrum. Oft fliegen sie nur über die Trupps hinweg, wissen genau, dass sie kaum mal eine gesunde Gans erbeuten können. Aber vielleicht sind verletzte, auffällige Vögel dabei, die Jagderfolg versprechen.
Auf Grund der milden Witterung sind vielerorts noch Rotmilane anzutreffen, die mit den reichlich vorhandenen Mäusen eine stabile Nahrungsgrundlage haben. Eigentlich sollten sie jetzt nach Südwesteuropa (Spanien) unterwegs sein. Aber in den letzten Jahren kommt es verstärkt zu Überwinterungen in Deutschland, Lernen aus dem Klimawandel.
Bei Reestow zog eine weibliche Kornweihe nach Westen, Wintergast aus Skandinavien, wo die Art noch relativ zahlreich brütet, während sie aus Mecklenburg-Vorpommern als Brutvogel verschwunden ist, Opfer der intensiven Landnutzung. Eine weitere Kornweihe, sogar ein wunderschön gefärbtes ad. Männchen, entdeckten Kathrin und Frau Beck auf dem Gnitz.
Spannend war ein plötzlich auftauchender junger Wanderfalke bei Liepe. Die Stare hatten ihn jedoch rechtzeitig bemerkt und sich in Sicherheit gebracht. Da heißt es üben, aber erst einmal ausruhen in einer großen Pappel. Jedoch nicht lange, denn schnell wurde der Falke von mehreren Nebelkrähen intensiv gestalkt, so dass er entnervt abflog.
Aber was machen die Silberreiher zwischen den Gänsetrupps? Vor allem im Usedomer Winkel ein auffälliger Anblick. Die über das Grünland laufenden und dabei äsenden Gänse verursachen am Boden natürlich eine größere Unruhe. Das schreckt immer wieder Mäuse auf. Die weißen Reiher haben schnell gelernt, daraus einen Vorteil zu ziehen. Vor allem die großen Wühlmäuse sind eine attraktive und energiereiche Beute. Mehrfach konnten erfolgreiche Beutestöße beobachtet werden. Die noch zappelnde Maus hängt nur an der äußeren schmalen Spitze des Schnabels, aber wie in einem Schraubstock. Schnell hat es sich ausgezappelt und zack ist sie auch schon verschluckt.
Allein im Lieper Winkel ließen sich noch vier in ihren Revieren verbliebene Kranichpaare beobachten. Im Peenetal gibt es zur Zeit noch große Rastansammlungen. Im Usedomer Winkel entdeckten Marisa und Cornelius einen Rasttrupp mit 68 Kranichen sowie Olaf auf dem Festland bei Zemitz 270 und bei Klein Bünzow sogar 850 Kraniche.
Auch Kiebitze sind in kleinen und größeren Trupps noch in der Agrarlandschaft präsent wie bei Pudagla und Liepe. Im Grünland bei Kröslin konnte Harald 73 Brachvögel entdecken, eine dort im Herbst regelmäßig anzutreffende Art.
Glück hatten Kathrin und Frau Beck mit der Sichtung eines Raubwürgers in der Agrarlandschaft. Wunderschön weiß-grau-schwarz gefärbt, oft auffällig durch seinen Rüttelflug auf Beutesuche oder auf der Sitzwarte. Der Raubwürger ist ein kräftiger Singvogel, hat sogar einen Hakenschnabel, mit dem er große Insekten und sogar Mäuse und kleine Singvögel fangen und schnabelgerecht zerteilen kann. Die Art brütet in der Region nicht mehr, ist aber Wintergast aus Skandinavien. Raubwürger besetzen und verteidigen dann relativ großräumige Winterreviere, v.a. in ausgedehnten Grünländereien, die genügend Nahrung bieten müssen.
Das ruhige, am späten Vormittag zunehmend sonnige Wetter, wirkte auf einige Singvögel offenbar wie ein Katalysator: Es ist Spätherbst, nicht Frühling, aber Gesang hebt offenbar die Stimmung. Rotkehlchen sangen überall aus den Büschen, Zaunkönige schmetterten aus voller Kehle und auf einer Stromleitung lieferten sich gleich mehrere Grauammern regelrechte Gesangsduelle. Eine richtige Überraschung bereiteten jedoch Feldlerchen, von denen z. B. im Thurbruch noch einzelne Vögel beobachtet wurden. Bei Reestow aber gab es einen Rasttrupp von ca. 55 Feldlerchen, was für diese späte Jahreszeit doch ziemlich viel ist.
Hier nun geordnet nach Arten und Zählgebieten die Gesamtergebnisse für den November. Beim Vergleich muss man bedenken, dass 2022 mehrere Gebiete im nördlichen Peenetal nicht durch unsere Gruppe kontrolliert wurden, zudem an mehreren Plätzen morgens die Schlafplatzflüge erfasst wurden, die erfahrungsgemäß höhere Zahlen bringen, bevor die Gänse sich weiträumig in der Agrarlandschaft verteilen und Gruppen leichter übersehen werden können. Trotzdem sind die Unterschiede augenfällig.
2022 wurden insgesamt 15764 Gänse erfasst, in diesem Jahr 24014. Auf Grund der milden Witterung sind derzeit besonders viele Gänse in unserer Region. Das zeigt sich bei der Graugans (2022 nur 2907 Ind.), bei der es starken Zuzug aus Skandinavien gab. Und auch bei der Blässgans (2022: 6313 Ind.), bei der größere Ansammlungen noch nicht in die westeuropäischen Winterquartiere weitergezogen sind. Waldsaatgänse waren es hingegen deutlich weniger, weil vermutlich viele Waldsaatgänse unsere Region noch gar nicht erreicht haben.
Spannend ist die Entwicklung bei der Weißwangengans, deren arktische Bestände und auch die entstandene Ostseepopulation seit Jahren positive Tendenzen aufweisen. Nach 3645 Ind. im Vorjahr waren es nun fast 3000 mehr.
Alle Arten, die an den Nahrungsplätzen häufig vergesellschaftet auftreten, sind jedoch hochmobil, reagieren schnell auf Veränderungen in der Landschaft, wie Zähler z. B. im Usedomer Winkel oder auf dem Gnitz erfahren mussten.
Graugans | Blässgans | Saatgans | Waldsaat-gans | Tundra-saatgans | Weißwangen-gans | Rothals-gans | Summe | |
371003 Stettiner Haff | 550 | 500 | 800 | 1850 | ||||
371004 Gothensee | 120 | 990 | 450 | 1560 | ||||
371006 Achterwasser Süd | 873 | 2145 | 630 | 310 | 2329 | 6287 | ||
371008 Achterwasser Nord | 312 | 475 | 181 | 968 | ||||
371008 Peenestrom Mitte | 149 | 1490 | 233 | 1240 | 3112 | |||
372009 Peenestrom Süd | 105 | 1305 | 124 | 920 | 1 | 2455 | ||
372010 Peenestrom Nord | 487 | 450 | 402 | 1339 | ||||
372040 Polder Waschow | 180 | 4 | 6 | 190 | ||||
372041 Polder Klotzow | 1580 | 1600 | 90 | 220 | 3490 | |||
372048 Polder Johanneshof | 750 | 1100 | 30 | 25 | 1905 | |||
372049 Polder Pinnow | 400 | 450 | 850 | |||||
371066 Peenemünder Haken | 8 | 8 | ||||||
Summe | 4964 | 10559 | 30 | 1583 | 310 | 6567 | 1 | 24014 |
Bericht und Fotos: Bernd Schirmeister
15.11.2023